Möge die Realität mit dir sein
4Bardo war nicht nur Wissenschaftler, sondern ein Rationalist mit Leib und Seele (und nicht einmal die gab es für ihn). Sein Glaube galt der Vernunft, der Logik und … dem Wachmacher-Kaffee um Punkt 8:00 Uhr. Wenn irgendwo das Wort „Quanten“ in einem Gespräch fiel, rollte er mit den Augen …
Besonders nervte ihn die wachsende Zahl selbsternannter Quanten-„Experten“ bzw. -„Heiler“, die versprachen, man könne mit „bewusstem Beobachten“ das Universum beeinflussen, sogar gesund werden. Bardo meinte dazu nur: „Wenn das stimmte, gäbe es keine Staus mehr, oder unheilbare Krankheiten.“ Doch dann kam dieses eine Forschungsprojekt. Das Ziel war: die Verschränkung von Bewusstsein mit einem Quantenfeld. Der Leiter des Projekts, ein gut gelaunter Physiker mit Einstein-Frisur und Film-Zitaten auf seinem Thermobecher, behauptete, man könne „erleben, wie es ist, ein Teil des Werdens zu sein – und damit Teil des Seins zu werden.“ Bardo lachte … und meldete sich freiwillig, um diesem Humbug ein Ende zu setzen. Schon Erwin Schrödinger versuchte ja permanent, seine eigene Gleichung ad absurdum zu führen. Ihm würde das nun gelingen! Board wurde verkabelt, gekühlt, quantifiziert. Das Experiment begann. Und Bardo hörte … plötzlich auf zu sein. Oder eher: Er begann, auf viele Arten zu sein. Gleichzeitig. Und doch nie ganz.
Er stand in einem Wald – nein, einem Raum – nein, er war der Raum. Oder der Gedanke eines Raums. Dinge existierten nur, wenn er hinsah, und verschwanden, wenn er zu blinzeln versuchte. Alles war gleichzeitig Impuls, Lösung und Illusion. Er begegnete sich selbst – oder dem, was er hätte sein können, wenn er damals ja gesagt hätte, statt nein, oder wenn er Philosophie statt Physik studiert hätte. Einer dieser Bardos trug Sandalen, einer war ein berühmter Autor von Sachbüchern, einer arbeitete beim Finanzamt und war lustigerweise der Zufriedenste von allen.
„Was davon ist real?“, fragte Bardo. „Kommt darauf an, wer fragt.“, antwortete ein Teilchen, das gleichzeitig eine blaue Tomate war … oder eine blaue Tomate, der sich für ein Teilchen hielt. „Bin ich wach?“, „Wer würde das entscheiden, wenn nicht du?“, „Ich, … ich will einfach nur zurück.“, „Was meinst du mit ‚zurück‘?“, die blaue Tomate lachte, bis sie rot war und rollte davon. Es blieb das Nichts, oder eben das Alles.
Als das Experiment endete, fand sich Bardo im Labor wieder … und er hatte sich verändert. Er begann, Fragen zu stellen, die ihm früher nicht einmal in den Sinn kamen. Er schrieb ein Buch über seine (Nicht)Erfahrungen. Später, bei einer Lesung aus diesem Buch vor vollem Haus, sagte er: „Ich dachte immer, Realität sei das, was übrig bleibt, wenn man alles Unwahrscheinliche weglässt. Jetzt ahne ich, Realität ist das, was entsteht, wenn man sich nicht sicher ist. Und ich gestehe: Das gefällt mir sehr.“, und als jemand aus dem Publikum fragte, ob das nicht ein bisschen Esoterisch klinge, grinste Bardo nur. „Möglich“, sagte er. „Aber in der Quantenebene ist eben auch das möglich, was eigentlich nicht möglich ist. Und genau deshalb stehe ich hier, trage dabei Sandalen und arbeite ehrenamtlich für ein Finanzamt. Nur blaue Tomaten habe ich noch in keinem Supermarkt gefunden.“
Möge deine Realität gut beobachtet sein – das steht jetzt auf seinem eigenen, blauen Thermobecher – und den kann man nach der Lesung kaufen … ein Bestseller!
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Titelbild: KI generiert